„Als würde ich mit den Augen gucken“

Das #TABinterview mit Seniz Bernhardt

Seniz Bernhardt

Der Stößel der Braillezeile pulsiert gleichmäßig unter dem Zeigefinger. So wird ein Leerzeichen vom Computer auf das Gerät ausgegeben, was Bildschirminhalte für Menschen mit Sehbehinderung in Brailleschrift darstellt. Für das TAB-Interview sind wir mit Seniz Bernhardt verabredet. Zum Gespräch bringt sie ihre Hilfsmittel mit und erklärt uns geduldig die Funktionsweise von Screenreader und Co. Viel Geduld hat die 45-Jährige schon zuvor bewiesen, denn sie ist Testerin in unserem Projekt zur digitalen Barrierefreiheit und checkt die Umsetzungsschritte auf der TAB-Website direkt in der Praxis. Im TAB-Interview sprechen wir mit Seniz Bernhardt über ihren Umzug nach Erfurt und die Herausforderungen der Jobsuche.

Mehr Informationen zum TAB-Projekt zur digitalen Barrierefreiheit

Wie gefällt es Ihnen in Erfurt?

Ich bin nach Erfurt gezogen, weil mein Partner hier lebt. Schon beim ersten Besuch habe ich mich in die Stadt verliebt, denn hier hat es für mich einen tollen Flair. Und es ist eine Stadt, in der ich mit meiner Sehbehinderung gut von A nach B komme. Ich habe auch schon in Berlin gelebt, wo ich hoffen musste, dass die Bahn auch wirklich fährt, denn zu Fuß kommt man dort schlecht nach Hause. Meine Kinder leben immer noch in Berlin und das ist von Erfurt aus wirklich ein Katzensprung.

Wie gehen Ihre Kinder mit Ihrer Sehbehinderung um?

Meine Kinder kennen es nicht anders. Sie gehen total locker damit um als wäre das halt einfach so. Natürlich machen sie sich auch Sorgen, wenn wir über die Straße gehen, dann wollen sie Verantwortung übernehmen und sagen, dass ich aufpassen oder stehen bleiben soll. Grundsätzlich sind meine Kinder da aber sehr entspannt. Auch ihre Freunde, die mich noch aus Kindergartenzeiten kennen, gehen damit ganz anders um. Da können sich Erwachsene noch viel von den Kindern abgucken.

Welche Barrieren gibt es in Ihrem Alltag, die Sie besonders ärgern?

Ich habe einen angeborenen Sehfehler, der sich seit meinem elften Lebensjahr bemerkbar macht: eine sogenannte Makula-Degeneration in der juvenilen Form. Das bedeutet den Ausfall des schärfesten Sehzentrums auf der Netzhaut. Mit einem Sehrest von fünf bis zehn Prozent kann ich mich im Raum orientieren, aber das Scharfsehen fehlt dadurch komplett. Daher ärgert es mich, dass es im öffentlichen Nahverkehr immer noch Anzeigetafeln mit sehr kleiner Schrift und wenig Farbkontrast gibt. Bei der Deutschen Bahn muss man im Servicebereich noch Nummern ziehen. Ich stehe da stundenlang, wenn mir niemand sagt, dass ich dran bin. Auch in Behörden habe ich oft das Problem, dass ich E-Mail-Anhänge nicht lesen und Formulare kaum ausfüllen kann.

Was hat sich denn schon deutlich verbessert?

Über mein Smartphone oder Tablet kann ich vergrößern oder die Vorlesefunktion nutzen. Das entspannt die Augen. Über Google Maps kann ich vorab schon mal die Orte checken und auch das Navigationssystem benutzen. Das ist eine große Erleichterung, wenn man die Straßenschilder nicht lesen kann.

Welche Fortschritte brachte Ihnen die Digitalisierung noch?

Als ich die Schule beendet habe, gab es leider kaum berufliche Möglichkeiten für Menschen mit einer Sehbehinderung. Masseurin, Physiotherapeutin, Korbflechterin, Telefonistin oder Bürstenbinderin: Zwischen diesen Berufen konnte ich mich beispielsweise entscheiden. An Tätigkeiten wie Verwaltungsfachangestellte, Kauffrau im Büromanagement oder Fachinformatikerin - wie das heute alles üblich ist - war gar nicht zu denken. Das hatte auch mit den technischen Möglichkeiten zu tun. Einen Zugang zu Computern gab es schließlich nicht. Die Digitalisierung brachte einen enormen Fortschritt, auch neue Berufszweige zu ergreifen. Was natürlich auch Auswirkungen auf die Lehre hatte - zum Vergleich: 1995 steckte ich mitten in der Vorbereitung für meine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Wir nutzen, schon ganz modern, einen Kassettenrekorder mit Aufnahmegerät und Mikrofon. Den Vortrag unseres Dozenten haben wir per Hand notiert und gleichzeitig aufgenommen, damit wir es später auf der Schreibmaschine übertragen konnten. Später gab es dann vergrößerte Skripte und CDs, sodass wir uns zum Beispiel die Anatomie des Körpers auch auf Bildern angucken konnten. Das war ein Highlight. Aufgrund einer Rückenerkrankung kann ich meinen Beruf mittlerweile nur noch teilweise ausüben. Daher habe ich mich beim BfW Würzburg zur Kauffrau im Gesundheitswesen umschulen lassen. Die Umschulung habe ich 2021 abgeschlossen und bin nun auf Jobsuche.

Seniz Bernhardt testet am Rechner mit Braillezeile und Jaws.

Masseurin, Physiotherapeutin, Korbflechterin, Telefonistin oder Bürstenbinderin: Zwischen diesen Berufen konnte ich mich beispielsweise entscheiden. An Tätigkeiten wie Verwaltungsfachangestellte, Kauffrau im Büromanagement oder Fachinformatikerin - wie das heute alles üblich ist - war gar nicht zu denken.

– Seniz Bernhadrt

Welche Erfahrungen haben Sie bei der Jobsuche gemacht?

In Vorstellungsgesprächen werde ich oft danach gefragt, wie ich meine Arbeit erledige, wenn es stressig wird oder wie ich mich generell organisiere. Das sind zwar typische Fragen, aber im Hinterkopf schwingt in meinem Fall dann oft der Gedanke mit, wie belastbar ich bin. Erst kürzlich wurden in einem Bewerbungsgespräch Bedenken geäußert, wie ich denn acht Stunden am Stück in Dokumenten lesen soll. Mit der Begründung, dass Dokumente eben noch nicht barrierefrei seien. Im gleichen Atemzug werde ich im Bewerbungsgespräch gefragt, ob ich mir das Organigramm angesehen habe. Ja, das habe ich. Aber ich konnte es nicht lesen.

Wie gehen Sie damit um?

Es geht doch genau darum, solche Dokumente für alle zugänglich zu machen, damit diese Probleme gar nicht erst entstehen. Und na klar bin ich nicht so schnell wie sehende Menschen oder kann die Arbeit acht Stunden lang – nur mit den Augen sehend – machen, aber das heißt ja nicht, dass ich meine Arbeit nicht gut mache. Im Gegenteil: Menschen mit einer Behinderung geben manchmal sogar 150 Prozent und sind hochmotiviert, weil es einfach so wertvoll ist, einer Tätigkeit nachzugehen. Ich würde mir wünschen, dass man einem einfach mal die Chance gibt, sich zu beweisen.

Welche Bedeutung hat digitale Barrierefreiheit für Sie?

Digitale Barrierefreiheit bedeutet für mich, dass ich Seiten oder Bereiche im Internet ohne fremde Hilfe bedienen kann. Also wenn ich beispielsweise eine Videokonferenz habe, möchte ich alle notwendigen Schalter dazu selbst aktivieren und bedienen können. Das sollte für mich so sein, als würde ich mit den Augen gucken.

Wie gut oder schlecht funktioniert das in Deutschland?

Durch meinen Umzug hatte ich kürzlich ziemlich viel mit Ämtern zu tun. Teilweise funktioniert es gut, aber dann wieder gar nicht. Das ist von Behörde zu Behörde bundesweit unterschiedlich. Ich habe zum Beispiel mehrfach in Ämtern nachgefragt, ob man mir Anträge per E-Mail senden kann. Dann hätte ich sie am PC vergrößern können, aber leider können die Dokumente nur in Papierform verschickt werden. Ich habe also Papiere zu Hause rumliegen, die mit blauer Schrift auf grauen Hintergrund wenig kontrastreich sind. Ich glaube, sogar sehende Menschen hätten Probleme gehabt, das zu erkennen.

Dann gibt es andere Behörden, da konnte ich einen Schnellantrag stellen. Da lade ich mir eine PDF-Datei herunter, was auch nicht immer ganz unproblematisch ist, aber mit ein paar Tricks komme ich damit schon klar.

Auch wenn man mit Ämtern am meisten zu tun hat, haben private Unternehmen auch Nachholbedarf. Es gibt Websites, da klicke ich einen anderen Bereich an und plötzlich ist alles auf Englisch hinterlegt. Da verstehe ich schon gar nichts mehr. Dann gibt es aber auch wieder Websites, da kann ich mir alles problemfrei durchlesen und es gibt Bereiche in leichter Sprache. Was ich damit sagen will: Es sollte deutschlandweit schon ein bisschen einheitlich sein.

Wie sollten Unternehmen an das Thema herangehen?

Ich finde es klasse, dass sich die TAB die Leute holt, um die Anpassungen auf der Website zu testen. Und das Feedback auch ernst nimmt, denn wir haben ja nochmal probiert und nochmal getestet, um zu gucken, ob es denn barrierefrei funktioniert. Also wieso sollte man nicht Geld und Zeit investieren, um Schulungen für die Mitarbeiter stattfinden zu lassen und Menschen einbeziehen, die betroffen sind.

Geben Sie uns einen Ausblick, was Sie sich für die Zukunft wünschen?

Wünschenswert wäre es, wenn unsere Kinder in dieser digitalen Welt schon damit aufwachsen, dass Barrierefreiheit ein wichtiger Standard ist. Ich denke mir, dass man das Thema schon in der Schule behandeln sollte. Meine Tochter kann schon im Zehnfinger-System am PC schreiben, dann kann man doch auch gleich noch barrierefreie Dokumente erstellen. Somit hätten zukünftig vermehrt auch Menschen mit einem Handicap Zugang zum Arbeitsmarkt und können ihre Arbeit flott erledigen – egal ob im Büro oder von zu Hause aus.

Mein Wunsch wäre auch, dass wir in der Zukunft mehr mit der Sprachausgabe arbeiten. Gerade im Straßenverkehr oder im Wartebereich von Behörden könnte man die Anzeigetafeln doch um eine Sprachausgabe ergänzen. Also wenn überall im alltäglichen Leben ein bisschen mehr an Menschen gedacht wird, die nicht so gut sehen, hören oder sich weniger gut bewegen können, dann wäre uns schon viel geholfen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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